Freiwillige:r Bistum Hildesheim
"Bolivien rockt!"
Aktualisiert: 14. Sept. 2020

Nach ausgiebiger Überlegung, was uns denn nun als erster Blogeintrag dienen könnte, sind wir zu einem sehr simplen Schluss gekommen, um dem Blog von Anfang an einen möglichst authentischen Charakter zu verleihen und Bolivien so lebendig erscheinen zu lassen, wie es für uns alle während unseres Dienstes war. Was ließe sich dafür besser verwenden, als die erste ausgiebige, verschriftlichte Reflexion über die ersten paar Wochen in Bolivien, in denen uns Land und Menschen genauso fremd und aufregend erschienen, wie allen, die sich noch nicht über einen längeren Zeitraum dort aufgehalten haben. Da dieser Abschnitt nur zu Orientierung dienen soll, ist mehr zu sagen auch nicht nötig, außer vielleicht: Bolivien rockt!
Wir schreiben das Jahr 2019, Ende August. Der Wind pfeift, die Sonne bringt beinahe Flüsse zum Kochen und die Leidenschaft der Bolivianer:innen überrumpelt mich Tag für Tag. Die Musik unterschiedlichster Hupen, von kleinen Motorradhupen über schrille PKW-Hupen, deren Klang sich nicht auf einen Ton einigen zu können scheint, bis hin zu LKW-Hupen, die mehr von dem Schallsignal der Titanic haben, als von einem angebrachten Warnsignal im Straßenverkehr. Würde ich mich damit beschäftigen, könnte ich vermutlich in zwei Wochen unterschiedliche Hupen bestimmten Fahrzeugmodellen zuordnen und die Tonfrequenzen mit dem Charakter der jeweiligen Fahrenden in Verbindung bringen. So eine große Rolle scheint mir das Hupen in dem Leben eines:r Bolivianers:in zu spielen, der:die es kaum abwarten zu können scheint, an einer Kreuzung anzukündigen, dass er:sie gerade mit 80 km/h ohne Rücksicht auf Verluste eine Straße entlangbrettert, die ich in meinem Herkunftsland vermutlich als Dreißigerzone eingestuft hätte. Und trotzdem fühle ich mich sicher in dem „Micro“ eben jenes Bolivianers, der seit 11 Stunden am Steuer sitzt, zusehen muss am heutigen Tag genug Geld zu verdienen, um seinem kleinem Sohn, der neben seinem Papa sitzend ganz intensiv einen „Toy Story“-Flyer zu studieren scheint, einen Kinobesuch des neuen „El rey león“ zu ermöglichen, ohne dafür das Abendessen karg ausfallen zu lassen. Die Mama beobachtet ihren Sohn,als ihr Ehemann erneut die Ankunft des Toyota-Busses ankündigt, indem er kräftig auf die Hupe drückt. Ich fühle mich sicherer, als in den meisten Autos, die auf der deutschen Autobahn entlangrasen. Ich vertraue ihm. Er beherrscht sein Metier, genauso, wie die freundliche Cholita am Straßenrand es beherrscht, köstlichen „Somo“ herzustellen. Ich fühle mich sicher in seinem Bus und kann ganz entspannt Vokabeln lernen, um auch in der Lage zu sein, Padre Daniel in meiner Unterkunft zu erklären, was mir heute Unglaubliches passiert ist.
Als ich den einen Micro verließ, indem ich dem Fahrer, pingelig darauf bedacht auch ja das R nach allgemeiner Vorschrift zu rollen, in meiner freundlichsten Stimmlage zurief: „Pare, por favor“, um so dankbar wie möglich zu klingen und ihm meinen Respekt zu erweisen, wo ich doch nur 2 Bolivianos für die halbstündige Fahrt bezahlt hatte, fiel mir plötzlich auf, dass mein Portemonnaie mit Kreditkarte, Ausweis und einer Menge Bargeld noch im Bus lag.
Während der Sound meines Herzschlages mehr von den Schritten des Pferdes, welches ich am Morgen eine Kutsche voll mit Kochbananen ziehend die Straße entlang galoppieren gehört hatte, gehabt zu haben schien, rief ich meine Mitfreiwillige Maja an, vor deren Haus ich gerade ausgestiegen war. Was hätte sie schon tun können, aber ich wusste nicht, wie ich sonst als erstes handeln sollte. Plötzlich kam ein junger Mann auf uns zu, der etwas Spanisches in einer Geschwindigkeit sagte, dass ich nur mit einem „Sí“ so tun konnte, als hätte ich auch nur die Hälfte von dem verstanden, was er mir gerade versucht hatte zu sagen. Er zog etwas aus seiner hinteren Hosentasche und gab mir wortlos mein Portemonnaie zurück, indem ich alles wie gehabt vorfand. Der junge Mann war knappe 200 Meter nach mir ausgestiegen, um mir meinen Geldbeutel wiederzugeben, den er genauso gut hätte behalten oder im Bus ignorieren können. Des Schocks wegen, welcher denke ich größer war als der zuvor, als ich bemerkte, dass mein Portemonnaie sich nicht mehr in meiner Hosentasche befand, vergaß ich dem Mann ein wenig Geld als Dankeschön zu geben. Aber auch ohne, dass ich ihm Geld gegeben hatte, schien er zufrieden, mich so glücklich zu sehen, wobei ich doch vorher so ausgesehen haben muss, als würden mir gleich alle Sicherungen durchbrennen und spontan Stresspickel wachsen. Ich bin dem Mann nicht nur dafür dankbar, dass er mir meine Kreditkarte und mein Bargeld wiederbrachte, sondern vor allem auch dafür, dass er es war, der mir das Gefühl gab, in Bolivien endlich angekommen zu sein.
Es war der Tag seit meiner Ankunft, den ich als den Wichtigsten bezeichnen würde. Nicht nur gab mir dieses Ereignis ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen in die Menschen hier, sondern ebenso fing ich an, weniger an zu Hause zu denken, oder vielleicht eher mein Zuhause hier gefunden zu haben.
Seitdem genieße ich es jeden Tag ein bisschen mehr hier zu sein, genieße ich es bisschen mehr noch 11 weitere Monate hier sein zu dürfen und bin dankbar für die Möglichkeiten, die sich mir dieses Jahr eröffnen und die ich hoffe Anderen eröffnen zu können. Ich freue mich sehr, Ende nächster Woche in mein Projekt in San Ignacio de Moxos zu kommen. Ich kann nicht einmal genau identifizieren, was genau es an diesem kleinen, zwar schönen und unerwarteten, jedoch üblicherweise keine Auswirkungen in diesem Maße habenden Ereignis war, was mich so bewegte. Ich bin aber auch zu dem Schluss gekommen, dass es überhaupt nicht wichtig ist, was genau es jetzt war. Genauso wie ich zu dem Schluss gekommen bin, diese Reflexion unseres ersten Monats hier in der Art einer Geschichte zu schreiben, weil es, so meine ich zumindest behaupten zu können, nicht wichtig ist, was genau die ersten, zweiten oder dritten Eindrücke waren, wenn man bereits weiß wie es ausgehen wird, nämlich gut. Es ist eher wichtig, dass es so ist, wie es ist, und dass es dich positiv beeinflusst.
Natürlich habe ich keine Ahnung, warum genau die Autos hier in bestimmten Situationen hupen und in anderen nicht. Genauso wenig hat der Klang einer Hupe etwas mit der Persönlichkeit des:der Hupenden zu tun. Was wichtig für mich ist, ist die Tatsache, dass es die Stadt lebendig wirken lässt und dass es mir das Gefühl gibt, dass der:die Bolivianer:in im Allgemeinen ungerne etwas ohne Leidenschaft tut, nicht jedoch, dass ich es zu Beginn sehr nervig fand und mich dabei erwischte zu denken: „Die können doch alle kein Auto fahren. Warum hupen die die ganze Zeit?“. Mittlerweile gehört es zu dem Stadtleben hier dazu und ich wage es zu behaupten, dass jede:r, der:die in Santa Cruz de la Sierra unfallfrei Auto fahren kann, überall anders auf der Welt auch fahren kann. Ebenso habe ich natürlich nicht die geringste Ahnung, wofür der Microfahrer momentan spart oder ob er überhaupt spart. Ich kann ja nicht einmal mit hundertprozentiger Gewissheit sagen, ob es sein Kind und seine Frau waren, die ich dort beobachtet hatte.
Was für mich jetzt wichtig ist, ist, dass diese Beobachtung dazu führte, dass mein Respekt für die Fahrer:innen ins Unermessliche anstieg; ebenso meine Faszination, dass das Kind trotz des ganzen Lärms und der Unruhe genauso mit seinen Sachen spielte, wie ich es früher auf dem ruhigen Teppich unseres Wohnzimmers tat. Ich bin der Meinung, dass der Versuch aus allem Erlebten das Positive als Schluss zu ziehen, beinahe genauso wichtig ist, wie überhaupt etwas zu erleben. Mit diesem Aphorismus möchte ich nicht klingen, als hätte ich die Welt verstanden. Ich möchte lediglich dem:der Leser:in das mitgeben, was diese „Reflexion“ mich letztendlich gelehrt hat.
~Ben Engler