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  • AutorenbildFreiwillige:r Bistum Hildesheim

Streik, Vandalismus, Verletzte, Tote. Und ich wechsele mein Projekt.

Am 11. Oktober 2019 bin ich wieder nach Santa Cruz gefahren, um bei meiner Gastfamilie - dort, wo ich auch für den Sprachkurs gewohnt habe - auf ein neues Projekt zu warten und mich auszukurieren, da es mir aufgrund der Waldbrände in meinem vorherigen Projekt in San Ignacio de Velasco sowohl gesundheitlich als auch psychisch nicht gut ging.


Was den Projektwechsel noch schwerer macht, ist die aktuelle politische Situation.

Am Sonntag, den 20. Oktober 2019, waren Präsidentschaftswahlen in Bolivien. Der aktuelle Präsident Evo Morales ist überzeugt davon, dass er die Wahl gewonnen hätte und würde damit seine vierte Amtszeit antreten. Große Teile der Bevölkerung und die Opposition werfen ihm aber Wahlbetrug vor (der mittlerweile von der OAS bestätigt wurde) und wollen das von ihm verkündete Ergebnis nicht akzeptieren.

Außerdem gab es 2016 ein Referendum, indem die Bolivianer:innen entschieden hatten, dass Morales nicht noch einmal kandidieren darf. Der Meinung der Bürger:innen zu Trotz, hat er sich eine erneute Kandidatur ermöglicht, was viele Bürger:innen noch verärgerter macht.

Zivilstreik während einer politischen Krise in Bolivien. Evo Morales als Auslöser für den Streik.
Leere Straßen in Santa Cruz

Deswegen gibt es einen unbefristeten Zivilstreik in ganz Bolivien - heute ist schon der zwanzigste Tag. Das bedeutet (für Santa Cruz de la Sierra): Schulen, Universitäten, Supermärkte, Geschäfte und Restaurants haben weitestgehend geschlossen, es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel und in der ganzen Stadt gibt es Straßenblockaden, sodass es kaum möglich ist, sich anders als mit dem Fahrrad oder zu Fuß zu bewegen - und das schon seit zwanzig Tagen und ohne Aussicht auf ein Ende.


Außerdem gibt es viele Demonstrationen und Proteste im ganzen Land verteilt.

Das normale Leben ist für unbestimmte Zeit unterbrochen und alle haben nur gehofft, dass Evo Morales sein Amt niederlegt oder Neuwahlen akzeptiert, denn das ist, was viele Menschen fordern.

Eigentlich sollte ich schon vor drei Wochen ein Projekt in Cotoca besuchen, aber es war nicht möglich, die Stadt zu verlassen und ich habe wochenlang dementsprechend die meiste Zeit im Haus verbracht. Der Markt und der Supermarkt in meinem Stadtviertel haben nach ein paar Tagen des Streiks wieder geöffnet, allerdings nur bis 12 Uhr und ich bin schon öfter mit meiner Gastschwester und meinem Gastvater um sieben Uhr morgens zu Fuß mit Schubkarre losgegangen, um einzukaufen. Es ist ein komisches Gefühl mitten auf der vierspurigen Straße laufen zu können, die normalerweise mit Autos und Bussen überfüllt ist. Die Milch zum Beispiel ist so früh schon so gut wie ausverkauft, auch sonst gibt es nicht so viel Auswahl wie normalerweise und die Preise steigen an. Tomaten kosten auf dem Markt schon das Doppelte als noch vor drei Wochen, weswegen meine Gastfamilie mittlerweile nur noch im Supermarkt einkauft, denn dort ist es - im Gegensatz zum Normalzustand - günstiger.

Ich bekomme täglich mehrere Fotos und Videos zugeschickt, von Demonstrationen oder Schlägereien, vor allem in Santa Cruz, was immer wieder sehr erschreckend ist, weil sich diese teilweise im eigenen Stadtviertel abspielen.

Was mich wieder einmal geschockt hat, ist die Tatsache, dass in deutschen Medien kaum darüber berichtet wurde bzw. erst viel später. Genau wie bei dem Thema Waldbrände haben die meisten meiner Familienmitglieder und Freunde erst durch mich davon erfahren, was ich ziemlich erschreckend und überraschend fand.

Mir war das vorher nicht bewusst, dass die Berichterstattung so mangelhaft ist, dass man von vielen gravierenden Dingen, die auf der Welt passieren, in Deutschland gar nichts oder nur wenig mitbekommt. Die aktuelle Situation hier in Bolivien ist wirklich ernst, es ist als hätte jemand auf den „Pause“-Knopf gedrückt und niemand weiß, für wie lang.


Ich habe aufgrund der aktuellen Situation sehr gemischte Gefühle.

Zum einen bin ich oft gelangweilt, etwas genervt und deprimiert, dass man den ganzen Tag nichts tun kann - vor allem auch nichts, dass dazu beitragen würde, die Situation in Bolivien zu verbessern.

Zum anderen bin ich traurig, weil die Menschen hier nicht arbeiten gehen können, dadurch kein Geld verdienen, die Preise für Lebensmittel auf den Märkten steigen, es viele Verletzte und sogar schon Tote durch gewaltsame Proteste gibt und ich insgesamt keine wirklich realistische Lösung sehe, die das Leben schnellstmöglich wieder normalisieren würde.

Ich gucke als deutsche Freiwillige eigentlich nur von außen zu und bin doch mitten drinnen.

Das schlimmste ist im Moment, dass man nicht weiß, was passieren wird, sowohl in der Politik, als auch im Sinne meines Freiwilligendienstes.


Tatsächlich gibt es seit ein paar Tagen zumindest wieder Busse, die früh morgens aus der Stadt in andere Orte fahren und so konnte ich am Mittwoch endlich nach Cotoca fahren und werde jetzt vermutlich hier meinen Freiwilligendienst weiterführen. Ich wohne hier auf einem Schulgelände zusammen mit Ordensschwestern und werde vermutlich in der Vorschulklasse der Schule arbeiten. Leider findet wegen der politischen Situation im Moment kein Unterricht statt, weswegen ich erstmal nicht mehr über meine Arbeit oder einen Alltag erzählen kann.

Hoffen wir mal, dass sich das bis zum nächsten Rundbrief ändert und ich dann von nicht so bedrückenden Dingen berichte.


Vor allem seit Samstag überschlagen sich hier die Ereignisse.

Tatsächlich hat Evo Morales gestern Morgen dann Neuwahlen angekündigt und letztlich gegen Abend bekanntgegeben, zurückzutreten. Zahlreiche andere Minister:innen und Vorsitzende (vor allem der Partei MAS von Morales) haben ebenfalls ihren Posten verlassen - so zum Beispiel auch der Vizepräsident.

In der letzten Nacht gab es leider sehr viel Vandalismus, vor allem ausgehend von Anhänger:innen der Partei MAS, und generell weiß immer noch niemand, wie es jetzt weitergeht.

Es sollen ein neues Wahlsystem geschaffen werden und dann Neuwahlen stattfinden, aber wie genau das passieren kann, ist sehr unklar, weil die meisten Führungspersonen abgedankt haben, die etwas hätten entscheiden können.

Deshalb ist das einzige, was bleibt, abzuwarten und zu hoffen, dass nicht mehr Gewalt und Vandalismus passieren.

Nun soll der Rücktritt von Morales geprüft und bestätigt werden - unter der Führung der Vizepräsidentin des Senats, die dann als vorübergehende Machthaberin in Frage kommen würde und Neuwahlen ausrufen könnte.


Ich verbringe mit den Nonnen den ganzen Tag vorm Fernseher und verfolge die Nachrichten - ständig passiert etwas neues Unerwartetes und die Situation scheint sich innerhalb weniger Minuten komplett zu drehen.

Es kann also gut sein, dass das, was ich bezüglich der Politik berichtet habe, schon in ein paar Stunden völlig überholt ist. Über manche Dinge wird die Tagesschau vielleicht berichten - vielleicht.


~Sophie Bittner

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